© by Fabrizius

Liebe Freunde, wenn Sie Texte aus meinem Blog verwenden,
bitte geben Sie den Autor an, sonst ist es geistiger Diebstahl.

Samstag, 28. Januar 2017

*** ausgeplaudert *** Die Bedrohung

 Den ganzen Abend ging es hektisch zu. Ich war ewig in der Ambulanz beschäftigt, und auch die stationären Patienten ließen mich nicht zur Ruhe kommen.
Endlich, kurz vor Mitternacht wurde es ruhiger. Ich hatte mal wieder Bereitschaftsdienst.

Zusammen mit zwei Nachtschwestern saß ich in der Stationsküche auf einer inneren Station im 1. Stock. Schräg vis-a-vis ging es über den Flur zur Intensivstation.
Der Kaffee war gerade am Durchlaufen, als wir es hörten:
»Hiiilfeee!«
»Was war das?«, fragte Schwester Jutta? Gespannt lauschten wir hinaus in den Flur. Es ist ja nichts Ungewöhnliches, wenn ein vielleicht verwirrter Patient im Halbschlaf oder auch noch wach, um Hilfe schreit.

Da war es wieder: »Hiiiilfeee!«
Wir hörten kein mickriges Stimmchen, eher einen satten Bassbariton.
»Das kommt aus der Intensiv!«, meinte Jutta.
»Wir schauen mal nach, was da beim Konrad los ist!«
Konrad war der diensthabende Pfleger auf der Intensivstation.

Ich habe den Anblick heute noch so vor Augen, als sei es erst gestern gewesen.

Pfleger Konrad, ein Zweimetermann, breit wie ein Schrank, stand in der hintersten Ecke einer Intensivbox, beide Hände abwehrend von sich gestreckt.

Vor ihm schwankte ein mickriges Mandei, das sich am Fußende des Bettes festhielt, sonst wäre es umgefallen. Die Infusion war herausgerissen, die ganze Soße tropfte auf den Boden. Dort lag auch das EKG Kabel. Die Sauerstoffmaske baumelte um den Hals.
In der rechten Hand hielt das schwankende Etwas ein Besteckmesser und fuchtelte damit wie wild in der Luft herum.
Sein Flügelhemd war, wie alle Flügelhemden dieser Welt, hinten offen, sodass wir freie Sicht auf ein runzeliges und verschissenes Oascherl hatten.
»I bring Di um! Hosch mi!«, ließ sich ein verwaschenes und durchaus zartes Stimmchen vernehmen.
Dazwischen der gut intonierte Bassbariton von Pfleger Konrad: »Hiiilfeee!«

Es war ein Bild, wie man es nicht alle Tage sieht.

Schwester Jutta packte das verschissene Matschgerl hinten am Flügelhemd, hob es freihändig ins Bett und entriss ihm anschließend das brandgefährliche Besteckmesser.

»Wasch Konni, Du bisch a na segglbleedr Seggl!« ***,
 Sagte Schwester Jutta zu ihrem Kollegen, der immer noch bibbernd in der Ecke stand.


*** hochdeutsch: »Weißt Du Konrad, Du bist ein wirklich blöder Hund!«

Der Seggl bekam so langsam wieder Farbe ins Gesicht und meinte, so durchgedrehte Patienten könnten schon mal ungeahnte Kräfte freisetzen und mit einem Messer sei sowieso nicht zu spaßen.

Mittlerweile lag der potentielle Messermörder wieder friedlich im Heiabettchen und fliretete mit Schwester Jutta.
»Bisch a blitzsaubars Mädle, di dad i a no vernasche!«

Die Antwort kam prompt:
»Oh Mandei, so viel Sauerstoff hat die ganze Intensivstation nicht, die du danach brauchen tätest!«
Natürlich sagte Jutta das alles auf Schwäbisch. Sowas kann man leider nicht in einem niedergeschriebenen Text festhalten.

Nachtdienste in einem Krankenhaus haben ihre eigenen Gesetze. Das ist im Schwäbischen nicht anders als im Niederbayrischen. Wer das nie miterlebte, kann sich keine Vorstellung davon machen.

Freitag, 27. Januar 2017

*** ausgeplaudert *** Das Duell

Es war eine tolle Zeit. Allesamt waren wir doch noch rechte Kindsköpfe im wahrsten Sinne des Wortes.

An einem frühen Abend auf Station war die Arbeit für mich getan. Ich ging eine letzte Runde, um nach den Frischoperierten zu sehen.
Alles war friedlich, sämtliche Briefe diktiert, die Unterschriftenmappe leer. Ich hatte Bereitschaftsdienst.

In der Stationsküche saßen Schwester Maria, eine schon ältere Krankenschwester und Ruth, Schwesternschülerin im dritten Kurs. Beide hatten Spätdienst. Auf dem Tisch war frisch gewaschene und vorher auf der Heizung getrocknete Mullgaze ausgebreitet. Damals legte das Personal auf Station noch selber die Kompressen und Tupfer für die Verbände.

Ich setzte mich zu ihnen und half mit. Das war eine Tätigkeit, bei der man über alles Mögliche ratschen konnte.
Ruth und ich neckten uns, so wie es junge Leute überall auf der Welt tun, wenn sie sich sympathisch finden. Die Worte flogen hin und her, wir lachten und kuderten.

Schwester Maria schaute ab und zu erstaunt auf, wenn wir uns gegenseitig aufzogen. Für sie war ein Doktor eine Respektsperson. Maria kam aus einer anderen Zeit, da musste eine Schwester Abstand halten. Ein vertrautes »Du« war unmöglich. Unser Rumalbern war in ihren Augen befremdlich, wenn nicht sogar verwerflich.

Ruth und mich störte das nicht. Wir duzten uns schon ewig.
Irgendwie kamen wir auf Perubalsam zu reden und ob man sich damit auch duellieren könne.
Perubalsam ist eine dickliche dunkelbraune Flüssigkeit, die seinerzeit als Wundheilmittel verwendet wurde.

Ich bemerkte es schon zu Anfang, wir waren noch rechte Kindsköpfe.

»Du traust Dich garantiert nicht damit rumzuspritzen!«, behauptete ich provozierend.
»Ich trau mich schon!«, bekam ich prompt zur Antwort.

Ich ging wortlos ins Verbandszimmer, füllte zwei Blasenspritzen mit Perubalsam und legte eine davon vor Ruth auf den Tisch.
»Feigling!«
Sie schnappte sich das Teil und gab mir eine Breitseite, dann flüchtete sie rüber ins Stationszimmer. Ich folgte ihr mit der zweiten Spritze und setzte auch eine Ladung ab.
Danach kauerte ich mich Deckung suchend hinter meinen Schreibtischstuhl im Arztzimmer, Ruth war mir dicht auf den Fersen.

Das Duell dauerte, bis beide Blasenspritzen leer waren.
Wir schauten uns gegenseitig an und lachten hell auf. Die Schwesterntracht von Ruth war über und über mit Perubalsam besudelt und mein Kittel ebenso.

Nun sahen wir die weiße Wand hinter meinem Schreibtisch. Da gab es ein paar gehörige Querschläger.

Die wenigen Spuren auf dem Fußboden waren schnell weggewischt, aber die Wand. Da ging nichts mit dem Putzlappen. Ein Versuch von mir scheiterte kläglich. Das dunkelbraune Zeugs verschmierte mehr, als dass es wegging.

Nun schauten wir uns recht bedröppelt an und Schwester Maria stand in der Tür und lachte.

Am nächsten Morgen zitierte ich sogleich den Haumeister auf Station. Es war der, dem ich aus Versehen Ohrentropfen wegen einer Bindehautentzündung ins Auge träufelte.

Ich hätte gestern Abend mit Perubalsam rumhantiert, da sei mir das Malheur passiert.
Er besah sich die Sache, sagte ein paar mal im breitesten Schwäbisch: »Hanoi, a so a Sauerei!«, schmunzelte und meinte furztrocken: »Hano, des hen mer glei!«
Dann drehte er sich um und sagte zu Ruth, die gerade im Moment durch die Türe schaute: »Du hoscht no ebbs Braunes an de Backe!«
Die wischte sogleich hektisch im Gesicht herum, dann ging sie mit hochrotem Kopf zum Spiegel.
Da waren natürlich keine verräterischen Spuren mehr von unserem Duell.
Unser Hausmeister meinte nur, er hätte sie gestern Abend mit ihrer versauten Schwesterntracht über den Hof ins Wohnheim flitzen sehen.

Zwei Stunden später war die Wand wie neu.
Schwester Maria hielt dicht und unser Hausmeister auch.

Tage später wurde frisch aufgebackener Leberkäse mitsamt Bier und Brezn in die Werkstatt geliefert.

Montag, 23. Januar 2017

*** ausgeplaudert ***

Alter Freund

»Wann ist es denn endlich vorbei?«
Große hohle Augen fixieren mich durch einen Schleier voller Schmerzen.
Die ersten Tropfen der schmerzstillenden Infusion kriechen in den ausgemergelten Körper.
Vor der Tür, zusammengekauert auf einem Plastikhocker, das Einzige, was in seinem Leben geblieben ist, die Tochter, die ihn die letzten Jahre umsorgte.

So gefasst war sie gewesen, so verzweifelt ist sie jetzt. Salzige Tränen suchen sich den Weg um die schlanken Backenknochen.
Sie hat nicht mehr die Kraft neben ihrem Vater zu sitzen.

Der Pfarrer ist verständigt, die Nachtschwester schaut immer wieder durch den schmalen Türspalt, nur den Kopf streckt sie herein. Der nahe Tod soll nicht hinaus.

Das Morphium beginnt seine barmherzige Wirkung.
Die zusätzliche Injektion habe ich vorbereitet.
»Sie sollen schlafen, ich geb’ ihnen was.«
Die heiße Hand sucht meinen Kittel, zieht mich näher.
»Lass mich noch einmal aufwachen, alter Freund, einmal nur noch.«

Sein letzter Wunsch ging nicht mehr in Erfüllung.

»Er ist heimgegangen« sagt der mittlerweile eingetroffene Pfarrer zur Tochter.
Die vielen Gespräche mit der Tochter, das Hoffen und das Wissen um den nahen Tod, vorbei.

Es ist alles gesagt.
Die Allerweltsformel »Mein Beileid« verkneife ich mir. Ein stummer von ihr zaghaft erwiderter Händedruck.
»Alter Freund« - hat er zu mir gesagt, - ich habe nur seinen Namen gekannt und seine Diagnose. Verlegen gehe ich an der Schwester vorbei.

Samstag, 21. Januar 2017

*** ausgeplaudert ***


Die Rosskur

Im Schwäbischen hatten wir einen wahrlich schlitzohrigen Hausmeister. Der war zu jedem Schabernack bereit. Wir, das hieß die Assistenzärzte, verstanden uns prima mit ihm. Er tat uns so manche Gefälligkeit und wir ließen uns auch nicht lumpen. Ein paar neoliberale Klugscheißer würden das heutzutage als Win-win-Situation bezeichnen.

So kam er eines Morgens zu mir auf Station mit feuerroten Augen. Sakrisch brennen würden sie und andauernd tränen.

Das sah nicht gut aus. So eine Bindehautentzündung, um die es sich offensichtlich handelte, musste dringend behandelt werden.

»Hast Du ein paar Augentropfen für mich?«
Natürlich hatten wir welche auf Station.
Ich griff in den Medikamentenschrank und nahm das erstbeste Flascherl aus dem Tropfenregal.

»Setz Di na!«, befahl ich ihm auf schwäbisch.***
Kopf zurück!«
Ich nahm das Flascherl und tropfte ein paar Tropfen in jedes Auge.
Kaum war die Applikation beendet, stand er auf und mermelte rum.
»Oh boa, das Zeugs brennt wie d’Sau. Mit beiden Händen rieb er seine Augen, die mir noch feuerroter vorkamen.

Ich schaute nochmal auf das Fläschen. Ich hatte daneben gegriffen und die Ohrentropfen erwischt. Ich wunderte mich beim Einträufeln schon, warum die so ölig waren. Allerdings war auch da ein Antibiotikum drinnen.

Er solle sich jetzt mal in die Werkstatt setzen und mit einem kalten Waschlappen beide Augen kühlen.

Heimlich stellte ich das verkehrte Flascherl zurück in den Schrank und gab ihm nun die richtigen Augentropfen mit.
Die müsse er noch mindestens drei Tage lang, mehrmals am Tag, einträufeln.

»Tun die immer so weh?«, fragte er mich. Ich meinte daraufhin, dass das nur beim ersten Mal so sei.

Mit einem knappen »Aha« und einem noch knapperen »Danke« schlich er sich wieder.

Am späten Nachmittag saßen wir zusammen in der Stationsküche und machten Brotzeit. Seine Augen waren schon wesentlich besser, dank der Rosskur.

Er fragte noch, ob ich heute Morgen nicht ein anderes Flascherl hergenommen hätte. Die Tropfen, die er jetzt habe, würden überhaupt nicht brennen.
Ich schwieg eisern und meinte nur, er solle sich nicht so anstellen. Er sehe ja, dass das Zeugs wirke.

***) Egal, wo man ist, so ein paar Brocken des landestypischen Dialektes muss man sich aneignen. In diesem Fall was es im bayrischen Schwaben, südlich von Augsburg.
Da hatte ich meine Lehrstunde in Sachen Dialekt.
Eine Bäuerin aus den »westlichen Wäldern« kam in die Ambulanz, machte ein griesgrämiges Gesicht und klagte:
»I han Wedage auf de Bridde!«
Der Ortskundige weiß mit den Ortsnamen Langenneufnach und Mickhausen sicher was anzufangen. Dort wird ein ganz besonderer Dialekt gesprochen.
Nun, die »Wedage« sind nichts anderes als Schmerzen und »de Bridde« ist der Fußrücken.
Ich musste nur einmal nachfragen, bekam die gleiche Antwort: »I han Wedage auf de Bridde« und wusste Bescheid. Test bestanden. »Ich habe Schmerzen am Fußrücken!«

Seitdem liebe ich dieses kantige Schwäbisch aus den westlichen Wäldern. Mit »westlich« ist natürlich westlich von Augsburg gemeint, welches im Volksmund »Datschiburg« genannt wird.
Einen wunderschönen und lesenswerten Artikel finden sie in der Süddeutschen: http://www.sueddeutsche.de/bayern/ortsnamen-in-bayern-das-geheimnis-von-datschiburg-1.1793356

Donnerstag, 19. Januar 2017

*** ausgeplaudert ***Wenn einem das Herz in die Hose rutscht

 

Die nächste Geschichte ist eine makabre Geschichte. Aber auch makabre Geschichten müssen erzählt werden.


In einem kleinen Krankenhaus im Schwäbischen war ich ein paar Jährchen als Assistenzarzt tätig. Dort hatte ich eine chirurgische Station zu betreuen. Für einen Jungspund, wie mich damals, eine Herausforderung.
Neben dem Wirken bei den Lebenden musste natürlich auch immer mal wieder der Tod bei einem Menschen festgestellt und per Leichenschein dokumentiert werden.

So geschah es an einem Werktag frühmorgens. Ein alter Mann erlag in der Nacht seinem Leiden. Wir alle hatten schon damit gerechnet. Nun war er Tod! Ich füllte die üblichen Formulare aus und kümmerte mich wieder um die Lebenden. Mittlerweile war der Leichnam vom Bestatter abgeholt.

In den Nachmittagsstunden eilte ein Mann auf meine Station und verlangte nach mir. Ich bat ihn in mein Zimmer. Er druckste kurz herum, es wäre ja eher peinlich für ihn, aber als Verantwortlicher für das städtische Leichenhaus könne er das nicht ignorieren. Lange Rede kurzer Sinn. Er fragte mich rundheraus, ob ich mir sicher wäre, dass der Tote von heute Morgen wirklich tot sei.

Da fiel mir nicht nur die Kinnlade herunter, sondern auch das Herz in die Hose. Ich malte mir die schrecklichten Szenarien aus. Schließlich war der schon eingesargt.

In Windeseile hetzte ich auf den Parkplatz, schmiss mich in mein Auto und fuhr zur Leichenhalle.  Ich stürmte hinein und fand erst mal keinen Sarg.

Mittlerweile war der Leichenhallenverantwortliche nachgekommen und meinte, er hätte den Sarg eben mal in einen Nebenraum geschoben und abgeschlossen, man könne ja nie wissen.
Was »man nie wissen könne« fragte ich nicht nach. Statt dessen verlangte ich mit bleichem Angesicht, vielleicht schlotterten, meine Knie auch ein wenig, den vermeintlichen nicht toten Leichnam zu sehen.

Friedlich lag der Verstorbene im Sarg. Der Verantwortliche meinte, er sei deswegen zu mir gekommen, weil er keine Leichenstarre feststellen konnte.

So langsam bekam ich wieder Farbe ins Gesicht.
Der Trottel hatte mir einen gewaltigen Schrecken eingejagt. Dann meinte er auch noch mit süßsaurer Mine, ob ich ihn, also den Toten, nicht doch nochmal abhören wolle.

Wieder im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte und dem ärztlichen Wissen erklärte ich dem Zweifler, dass eine Totenstarre bei so einem ausgemergelten Körper nicht unbedingt in vollem Ausmaß auftreten müsse und fragte ihn, warum er den Sarg nochmal geöffnet habe. Er habe was gehört, meinte er daraufhin.

Ich verkniff mir eine nicht schmeichelhafte Antwort und verlies wortlos das Haus der Toten.

Zurück im Krankehaus tuschelte der Pförtner mit zwei Krankenschwestern.
»Oh, der Herr Doktor hat wieder Farbe im Gesicht!«,
stellte eine der beiden fest, dabei kicherten sie ziemlich albern. Deshalb hieß ich sie »pubertierende Gänse«, worauf sie noch mehr kicherten.

Samstag, 14. Januar 2017

*** ausgeplaudert ***

Ein Satz für’s Leben

Das Physikum galt im Medizinstudium als schwerste Prüfung. Wer diese Hürde genommen hatte, durfte sich »cand. med.«, Kandidat der Medizin nennen. Vorher waren wir alle Studierende, also »stud. med«.

Nun war neben dem Studium die Famulatur angesagt, eine Art Praktikum für höhere Semester. Diese wurden in diversen Kliniken abgeleistet. Nun durfte ich mit den Ärzten mitlaufen und auch die eine oder andere ärztliche Tätigkeit unter Anleitung selbstständig durchführen.

Es war eine spannende Zeit. Hier lernte ich den Umgang mit Patienten, lernte diverse Untersuchungstechniken,  praktische Dinge halt, die später von grossem Nutzen waren.

Einen zweimonatigen Einsatz in der Kinderklinik ist mir besonders in Erinnerungen geblieben. Ich durfte in der Klinikambulanz mithelfen. Diverse Spezialsprechstunden wurden im wöchentlichen Rhythmus abgehalten. Die kleinen Patienten wuchsen mir alle ans Herz. Die onkologischen Sprechstunden waren für mich eine besondere Herausforderung.

Dort wurden viele Kinder mit Leukämie behandelt. Bei denen war zur Therapiekontrolle alle 3 Monate eine Liquorpunktion, ein Abzapfen von Rückenmarksflüssigkeit, notwendig. Das wurde ohne Narkose durchgeführt.

Die kleinen Patienten kamen in 4 wöchigem Turnus in die Spezialsprechstunde. Sobald sie ins Zimmer kamen, fragten sie, ob heute »Piks« gemacht würde. Wenn der Professor mit »nein« antwortete, ließen sie alle Untersuchungen über sich ergehen. Es wurde ja nicht Piks gemacht. Sagte er »Ja«, dann weinten sie oft still vor sich hin und fügten sich in ihr Schicksal.

Nach so einer Sprechstunde sagte mir der Kinderonkologe: »Belüge während Deiner Behandlung nie, absolut nie ein Kind. Belügst Du es ein einziges Mal, dann hat es alles Vertrauen zu Dir verloren!«

Diesen Satz nahm ich mir all die Jahre zu Herzen. Allzu schnell ist man geneigt, einem Kind mit einer barmherzigen Lüge helfen zu wollen. Es wird nie klappen. Ich belog während meiner ganzen ärztlichen Tätigkeit nie einen kleinen Patienten. Wenn es wehtat, dann sagte ich das, ohne irgendwas zu beschönigen.

Viele Jahre später kam ein 6 jähriger Knirps zusammen mit seiner Oma in meine chirurgische Sprechstunde. Er war mit der Hand in ein rotierendes Messer geraten. Viele Schnittwunden waren zu versorgen. Die Oma des Knaben war sehr aufgeregt. Sie lamentierte und bedauerte das Kind ununterbrochen. So kamen wir nicht weiter.

Kurz entschlossen nahm ich ihr den kleinen Prinzen weg, hieß sie im Wartezimmer Platz nehmen, und ging in einen der Ambulanzräume. Der Bub war erst mal überrascht, seine Oma war nicht mehr da und sonst war alles fremd um ihn herum. Er weinte, das tat halt weh!

Zusammen mit einer Schwester konnte ich den Knaben soweit beruhigen, dass ich die Lokalanästhesie legen konnte. Das würde jetzt ein paar mal Piks machen, aber es würde ja sowieso schon weh tun. Danach habe er keine Schmerzen mehr. Sehr tapfer legte er seine Hand auf das Versorgungstischen. Ich begann.

Ich fragte nach dem Kindergarten und bekam prompt von ihm zu hören, dass er heuer noch in die Schule käme. Ich fragte ihn, ob er denn gerne singen würde, und bekam ein Nicken. Mittlerweile wirkte die örtliche Betäubung. »Das tut jetzt nicht mehr weh!«, sagte er mir voller Stolz.

Ich begann die Schnittwunden zu säubern und zu nähen. Interessiert schaute er zu und wunderte sich über die gerundeten Nadeln. Dann sagte er mir, dass er mit seiner Mama immer das Lied »Ein Mops kam in die Küche« singen würde.
Daraufhin stimmten wir gemeinsam das Lied »Ein Mops kam in die Küche« an. Wir sangen es mehrmals rauf und runter und hatten viel Spaß dabei.

Nun kam die nächste heikle Szene. Ich wollte meinen kleinen Patienten für drei Tage unter stationärer Beobachtung haben, um rechtzeitig zu erkennen, ob sich die Wunden entzündeten. Eine Handinfektion kann sehr schlimme Folgen nach sich ziehen.
Das beredete ich mit ihm von Mann zu Mann. »Weißt Du, das haben wir jetzt so gut hingekriegt. Damit das gut heilen kann ist es am besten, Du bleibst drei Tage bei mir im Krankenhaus. Dann ist das soweit verheilt, dass nichts mehr passieren kann!«
Der Wonneproppen schluckte ein paar mal und gab sein OK.

Als ich die Oma in den Behandlungsraum rief, übernahm er selbst die Information.
»Ich muss jetzt hierbleiben. Du und Mama besucht mich jeden Tag und in drei Tagen bin ich wieder bei Euch!

Die Oma stand mit offenem Mund vor uns. Sie fand erst mal keine Worte, was für Großmütter eher selten ist.

Die Schwestern auf Station hatten viel Spaß mit dem aufgeweckten Kerlchen. Es heilte alles komplikationslos und das Entfernen der Wundfäden war ein Klacks!

Es war nichts anderes als grenzenloses Vertrauen.

Freitag, 13. Januar 2017

*** ausgeplaudert ***

Der erste Tag

Die Krankenschwestern trugen noch ihre Schwesterntracht mitsamt Häubchen und die Krankenpfleger wurden häufig mit »Wärter« angesprochen.
Als junger Medizinpraktikant wurde ich in diese Krankenhauswelt, von der ich noch keine Ahnung hatte, hineinkatapultiert. Vor Studienbeginn musste man so ein Praktikum ableisten.

In einer großen städtischen Klinik trat ich auf einer septischen Männerstation in der Chirurgie meinen Dienst an.
Auf dieser Station lagen ausschließlich Patienten mit vereiterten Wunden.

Die Stationsschwester machte nicht viel Federlesens mit mir, sie drückte mir eine verchromte Zwickzange in die Hand und schickte mich über die Station zum Fußnägel schneiden.

Etwas überrumpelt, aber trotzdem frohen Mutes, steuerte ich das erste Krankenzimmer an. Es lagen sechs Männer darin, die mich neugierig beäugten. Gleich zur Linken lag ein alter Mann, dem ich mich sogleich zuwandte.
»Auf gehts Opa, Fußnägel schneiden!«, sagte ich zu ihm laut und deutlich und schlug die Bettdecke zurück. Allgemeines Gelächter war die Folge.
»Ich hab doch keine mehr!«, bekam ich zur Antwort.
Da lag dieser bedauernswerte Mensch vor mir ohne Beine. Die waren vor Kurzem in Oberschenkelhöhe amputiert worden.
Ich musste ziemlich bedröppelt geschaut haben.
Trotzdem ließ ich mich nicht entmutigen und nahm den Patienten daneben ins Visier.

»Bist Du ein neuer Wärter?«, fragte mich dieser.
»Nein, ich will mal Medizin studieren!«, gab ich ihm wahrheitsgemäß zur Antwort. Dann machte ich mich über seine Zehennägel her.

Nun rauschte eine wunderschöne Schwesternschülerin herein und brachte allen Patienten Tee. Ihre Tracht verriet mir, dass sie im dritten Ausbildungsjahr war. Sie lächelte mich himmlisch an. Ich vergaß sämtliche Fußnägel dieser Welt und lächelte zurück.

»Bist Du der neue Medizinstudent?« Es entstand eine Pause, in der ich irgendwas mit Ja brabbelte und meinen Vornamen sagte. »Ich bin die Heidi!« Dann stellte sie das letzte Glas Tee ab und schwebte, mit einem kessen Blick über die Schulter, aus dem Zimmer.

Ein, »Herr Doktor, Du hast meine Fußnägel vergessen!«, brachte mich wieder in die Realität zurück. Ich musste die himmelsgleiche Erscheinung verdrängen und mich den schnöden Zehennägeln widmen.

Das erste Zimmer war geschafft. Auf dem Flur begegnete ich der Stationsschwester. »Morgen machen Sie das nächste Zimmer!«, befahl sie mir. »Jetzt gehen Sie mit zur Verbandsvisite!«

Wenig später kam der Stationsarzt, ein schmächtiger junger Mann mit freundlichen Augen und einem Lächeln auf den Lippen.
Ah, Herr Kollege, wie lange bleiben Sie bei uns?« Er nannte mich »Kollege«, da war ich schon ein bisschen stolz. Dann gab er mir die Hand und ich antwortete »Sechs Wochen!«
Dr. Mihailovic, ich weiß nicht mehr, ob der Name so richtig geschrieben ist, nahm mich unter seine Fittiche. Ich durfte ihm beim Verbinden zur Hand gehen.

Septische, also infizierte, vereiterte Wunden, sind oft sehr aufwendig. Unter den Argusaugen der Stationsschwester packte ich mit an und Dr. Mihailovic erklärte mir, was es mit diesem und jenem Patienten auf sich hat und warum er die eine Wunde so und die andere anders verband.

Die Verbandsvisite verging wie im Flug. Schwester Dora, so hieß die Stationsschwester, meinte, es sei für den Anfang ganz ordentlich gewesen.

So verging der erste Tag meines Praktikums ohne nennenswerte Komplikationen. Todmüde setzte ich mich in den Zug und fuhr nach Hause.

Das himmlische Wesen bekam ich an dem Tag nicht mehr zu Gesicht.

Mittwoch, 11. Januar 2017

*** ausgeplaudert ***

  Die Pille und die Versuchung

  Damals befürchteten diverse Kreise, die Menschheit sterbe aus, als 1960 die Antibabypille auf den Markt kam.
Mit der Pille kündigte sich eine gesellschaftliche Revolution an. Zunächst durfte sie nur verheirateten Frauen mit bereits mehreren Kindern verschrieben werden. Ein paar Jährchen später war das gekippt.

Nun war Poppen ohne Zittern, ohne Knaus Ogino und ohne Gummi aus Spaß an der Freude möglich. Die Fortpflanzung stand nicht mehr im Vordergrund.
So Themen wie Aids gab es noch nicht und die diversen Geschlechtskrankheiten waren im bundesdeutschen Bürgertum verdrängt.

Klerikale Männerbünde sahen den Antichristen auf die Erde zurückkehren. Sodom und Gomorrha waren noch die gemäßigteren Umschreibungen. Dann kam es doch nicht so schlimm, auch wenn von so mancher Kanzel die Pille als Teufelswerk verdammt wurde.

Trotzdem, der »Pillenknick« war in der bundesdeutschen Geburtenrate, und nicht nur dort, nicht zu übersehen.

Im Laufe der Jahre zeigten sich nicht unerhebliche Risiken für die Frauen. Beckenvenenthrombosen und tödliche Lungenembolien machten Schlagzeilen.

Die Antibabypille war in der Realität angekommen. Auch wenn die Präparate besser wurden, ein Restrisiko blieb.

2005 wurde in einer Studie der Internationalen Agentur für Krebsforschung (International Agency for Research on Cancer (IARC)) in Lyon festgestellt, dass das Risiko für Brustkrebs, Gebärmutterhalskrebs und Leberkrebs erhöht und das für Eierstock- und Gebärmutterschleimhautkrebs verringert sei.

Wie das bei Studien so üblich ist, sie erreichen in den seltensten Fällen das gemeine Volk.

Aufzuhalten war so ein Hype sowieso nicht. Die Freude an der Lust und dann noch ohne ungewollte Schwangerschaft war zu verlockend.
Jetzt haben wir uns ja alle daran gewöhnt und keine Sau, ausser vielleicht ein Gynäkologe, fragt nach der Pille.

Ich operierte mal eine Frau, ist schon ewig lange her, an den Eierstöcken. Um genau zu sein, ich machte eine Eileiterunterbindung, damit sie nicht mehr schwanger werden konnte. Sie vertrug die Pille nicht, wie sie mir glaubhaft versicherte.
O.k. ich bin Chirurg, aber warum sollte ich das nicht machen dürfen?

Vorher beim Aufklärungsgespräch über den Eingriff, der natürlich laparoskopisch durchgeführt wurde, bemerkte ich, dass es wesentlich einfacher wäre, ihren Ehemann zu sterilisieren. Das könne man sogar in örtlicher Betäubung machen. Sie müsse dann nicht das erhöhte Risiko einer Operation tragen.

Es war nur gut gemeint, ich schwöre! Ich denke, so ein Hinweis gehört immer zu so einem Gespräch. Blauäugig, wie ich damals war, dachte ich mir nichts dabei.

Besagte Lady schaute mich keck an und sagte: »Doktorchen, mein Mann ist da außen vor. Der weiß nicht mal, dass ich hier bei Ihnen bin. Der fährt auch nie in Urlaub mit mir, so sehr ist er mit seinem Beruf verheiratet. Dann fahre ich eben alleine und genau deswegen nutzt es Garnichts, wenn sie bei meinem Mann die Samenstränge kappen!«
Ich musste erst mal Luft holen, dann fasste ich mich aber schnell.

Das war noch nicht alles.
Der Eingriff verlief komplikationslos. Die immer alleine urlaubende Lady verlies am Tag darauf die Station.

Wochen später bekam ich einen Anruf von der Dame, sie würde in wenigen Tagen in Urlaub fliegen und ob ich nicht Lust hätte mitzukommen. Es sei alles für zwei gebucht und ich müsse nur ja sagen.

Ich überlasse es Ihrer Phantasie, wie ich mich entschieden haben könnte.

Die Lady war attraktiv, eins zwei Jährchen jünger als ich und gut betucht. Ich denke mal, dass sie keine zwei Einzelzimmer gebucht hatte.